Das Geheimnis des Lamassu
Kara Ben Nemsi und Arthur Conan Doyle unter Assassinen, Hexern und geflügelten Stieren.
Das Geheimnis des Lamassu
Leseprobe
Kapitel 4: Assassinen
Der Wind pfiff um die Zinnen, Giebel
und Dächer von Lindsay Castle, doch schien sich nichts zu bewegen. Alles wirkte
wie zu Eis erstarrt. Ich stand auf der Dachterrasse über dem Speisesaal und
stierte durch die Finsternis der Nacht hinaus in den Park. Ob die eisigen
Steine der Brüstung durch meine Hände die Kälte in mich hineinleiteten, oder ob
es die dramatischen und unheimlichen Umstände waren, die mir hier in Gestalt
eines Mords und eines Schlossgespensts begegneten – ich wusste es nicht. Ich
spürte nur dieses lähmende kalte Gefühl in mir. Von Zeit zu Zeit lugte der fast
noch volle Mond hinter einer der dunklen Wolken hervor, die über den Himmel
jagten und mir den Blick auf die Sterne verwehrten. Sein Licht tauchte die
nordenglische Landschaft in silbrigen Glanz. Über der weiten Rasenfläche in der
Tiefe leuchtete matt die zarte Schneedecke wie ein Leichentuch, wogegen an der
westlichen Seite des Parks die Trauerprozession einen breiten Pfad in ihr
hinterlassen hatte. Auch der angrenzende Wald verbarg sein Angesicht unter
einer glitzernden pudrigen Schicht. Stille umgab mich und drückte mich nieder
wie eine tonnenschwere Last. Nur der Schrei eines Nachtvogels durchbrach diese
hin und wieder, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagte.
Der Besuch
auf Lindsay Castle hatte sich ganz anders gestaltet als erhofft. Unerwartet
begrüßte uns hier der Tod, und das unverhoffte Wiedersehen mit Sir David war
von dunklen Schatten getrübt. Das Gefühl der Trauer über einen schmerzlichen
Verlust hatte ich eigentlich in Schottland hinter mir lassen wollen, doch das
war mir nicht vergönnt gewesen. Das Schicksal traf den Reisenden oft unvermutet
auf seinen verschlungenen Wegen und manchmal materialisierte sich die Bedrohung
bis zur fast greifbaren Existenz. So nun auch hier.
Derart
grübelte ich vor mich hin hoch über dem Park des Schlosses meines englischen
Freundes zu nachtschlafender Stunde. In tiefster Einsamkeit stand ich da, als
mich ein anderer Laut als der einer Eule zusammenzucken ließ. Es war der Schrei
einer Frau und ich wähnte, Anahita darin zu erkennen. Reflexartig wandte ich
den Kopf nach oben zum Balkon der Schwester Sir Davids. Und tatsächlich stand
die Tür offen. Eine Gestalt wand sich behände von der Brüstung hinauf und
erklomm in Windeseile die Mauer zum Dach. Der Mond beleuchtete ihre eng
anliegenden weißen Gewänder. Doch war ich mir sicher, dass es sich um einen
Menschen und nicht das sagenhafte Schlossgespenst Halefs handelte. Aber ich konnte
meinen Augen kaum trauen, mit welchem Wagemut dieser Einbrecher – und für etwas
anderes konnte ich ihn nicht halten – über die Giebel rannte, fast von Zinne zu
Zinne flog, geradewegs in meine Richtung. Mit unglaublicher Geschicklichkeit
sprang die Gestalt ohne jedes Geräusch von einem First zum nächsten und landete
schließlich mit einem Saltosprung neben mir auf der Terrasse. Lautlos stob ein
wenig Schnee auf. Meine Hand zuckte zum Gürtel, doch war ich bar jedweder
Waffen. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte mich der Fliehende an. Sein
Kopf war gänzlich in ein weißes Tuch gehüllt, das nur die düsteren Augen frei
ließ. Das weiße Gewand gürtete eine nachtfarbene Schärpe, in der ein gebogener
Dolch steckte. Seine Füße waren in dunkle Stiefel geschnürt, welche die Beine
bis kurz unter die Knie einhüllten. Die Hände waren von Handschuhen geschützt,
deren schwarze Lederschäfte fast bis zu den Ellbogen reichten. Ich blieb wie
angewurzelt stehen und war nicht fähig, mich zu bewegen. Die Flucht des Fremden
ging in unheimlicher Schnelligkeit und Stille vonstatten. Einer Katze gleich
oder beinahe wie ein weißer Schatten sprang er sofort weiter auf die Brüstung
der Terrasse, breitete die Arme aus und ließ sich wie ein Falke in die Tiefe fallen.
Ich hielt den Atem an. Der Park war über zehn Meter unter uns. Das vermochte
kein normaler Mensch zu überleben. Doch in jenem Moment war ich mir gewiss,
dass er unmöglich ein gewöhnlicher Einbrecher sein konnte. Von solchen Männern
hatte ich schon gelesen. Im Mittelalter gehörten sie einem syrisch-persischen
Geheimbund an und man nannte sie – Assassinen.
Ich
sprintete zur Brüstung, lehnte mich über die Mauer und blickte in die Tiefe.
War das der legendäre Todessprung, der Falkensprung? Der Mann hatte den Grund
erreicht und war keineswegs tot. Er erhob sich aus der Hocke und spurtete
leichtfüßig über die ausgedehnte Rasenfläche mit den phantasievoll
geschnittenen Buchsbäumen, die das Mondlicht in diesem Moment vor mir
entblößte, in Richtung Waldrand. Ich konnte kaum fassen, zu was der Unbekannte
fähig war.
In jenem
Augenblick hörte ich hinter mir Lindsay schreien:
„Hurry up!
Aus dem Weg, Kara!“
Mit dem
Gewehr in der Hand kam er aus der Terrassentür gestürmt, erreichte die
Brüstung, legte mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit an und setzte einen sicheren
Schuss. Der Knall echote in der Nacht mehrfach wider. Die Kugel verfehlte ihr
Ziel nicht. Der Assassine stürzte mitten in seiner Bewegung, überschlug sich
und blieb reglos im Schnee liegen.
„Kommt!“
Sir David
zog mich mit sich. Wir rannten über die Dachterrasse ins Haus und die breite
Treppe hinunter in die Empfangshalle. Von dort durch den wintergartengleichen
Speisesaal.
„Was ist
passiert?“, fragte ich im Laufen.
„Dieser
Meuchelmörder hatte sich in die Gemächer meiner Anahita geschlichen.
Wahrscheinlich wollte er sie ebenso töten wie meinen Vater. Doch er floh, als
ich eintrat“, antwortete er schwer atmend.
Wir
stürmten zum gläsernen Ausgang hinaus auf die untere Terrasse, sprangen die
Stufen hinunter in den Park und weiter über den schneebedeckten Rasen zu dem
getroffenen Assassinen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich noch immer
keine Waffe bei mir trug. Wir erreichten den Mann und hockten uns nieder. Ich
erblickte eine Einschusswunde in seinem Rücken. Sein weißes Gewand hatte sich
vom austretenden Blut dort rot verfärbt. Vorsichtig drehte ich ihn um. Er
stöhnte leise, also lebte er noch.
„Wir
müssen nach dem Arzt schicken“, empfahl ich.
„Well,
zuerst aber muss ich wissen, wer ihn beauftragt hat“, knurrte Lindsay.
Er zog dem
Mann die Maskierung vom Kopf. Wir erstarrten........
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